Vom Pferd das über den Rücken geht oder die korrekte Dehnungshaltung statt falsches Vorwärts-abwärts
Oft werde ich im Dialog mit meinen Reitschülern mit der Frage konfrontiert „ wie schaffe ich es , das mein Pferd über den Rücken geht.
Oft wurden diese Reiter beim tägl. Training mit ihren Pferden von anderen Reitern bzw. „Facebook-Experten“ angesprochen. Kommentare dieser „Experten“ wie z.B.: “Du kannst alle möglichen Lektionen und Übungen reiten, aber sie sind nutzlos, wenn Dein Pferd nicht über den Rücken geht,” oder “Wenn der Rücken nicht da ist, dann klappt gar nichts”, oder Du musst mehr V/A reiten
Diese Kommentare verursachen ein schlechtes Gewissen, weil sie einen (angeblich) schwerwiegenden Fehler aufzeigen, ohne irgendwelche praxisnahen Tipps zu geben, wie man die Situation verbessern kann. Oder sie geben vor, helfen zu wollen, indem sie sagen, man solle das Pferd “tiefer und runder” reiten oder es “vorwärts-abwärts dehnen” lassen.
Solche Vorschläge sind allerdings meistens auch sinnlos, weil sie nur ein Endergebnis erwähnen, ohne den Vorgang zu erklären, wie man dorthin gelangt. Leider lassen viele Pferde ihren Hals nicht fallen oder dehnen sich nicht vorwärts-abwärts, nur weil man die Zügel nachgibt, da die Fehlhaltung nicht von den Händen der Reiteri verursacht wurde. Deswegen sind die Reiter dann auch nicht in der Lage diese Vorschläge umzusetzen und fühlen sich noch deprimierter.
Was “über den Rücken” eigentlich bedeutet, wie es sich anfühlt, wie es aussieht und wie man dorthin gelangt ist meist ungeklärt. Geht das Pferd wirklich automatisch “über den Rücken”, nur weil der Kopf unten ist? Welche Beziehung existiert zwischen Form und Funktion? Was mache ich, wenn ich mit den Zügeln nachgebe, aber der Pferdekopf bleibt, wo er ist, anstatt sich vorwärts-abwärts zu dehnen?
Was meinen die Leute überhaupt, wenn sie vom “über den Rücken gehen” sprechen? Manchmal meint jeder etwas anderes, je nach Verständnis der Materie und Erfahrung und man muss die Worte in einen objektiven, systematischen, strukturellen Rahmen übersetzen.
Das Konzept des Rückengängers oder des schwingenden Rückens ist relativ neu. Die erste Erwähnung, stammt aus der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts. Davor war der schwingende Rücken offenbar keine Priorität, oder zumindest wurde er in der Literatur nicht angesprochen.
In einer Fußnote zu Gustav Steinbrecht’s Gymnasium des Pferdes schreibt Plinzner: “Die richtige Tätigkeit des Rückens erzeugt den schwunghaften Gang und macht sich dem Reiter durch diesen und durch federndes Kauen am Gebiß bemerkbar. Federnde Rückentätigkeit muß daher während des ganzen Verlaufes der Dressur das Hauptaugenmerk des Bereiters sein.”
Otto de la Croix (1910) sagt: “Denn betrachten wir die Form eines normalen Rückengängers, so ist auf den ersten Blick klar, daß ohne bedeutende Dehnung der über die obere Kontur des Pferdes hinlaufenden Muskulatur diese Form nicht angenommen werden kann. …
Dehnen können wir sie aber nur durch Untertreiben der Hinterhand bei herangestellter Nase.”
HIER SIND EINIGE WICHTIGE Fakten:
- Der Rücken bildet eine stabile, elastisch federnde Verbindung zwischen der Vorhand und Hinterhand.
- Wenn das Pferd seinen Rücken richtig benützt, entsteht eine schwingende Bewegung.
- Das Schwingen des Rückens entsteht durch die Bewegung der Hinterbeine und wird von hinten nach vorne, von Wirbel zu Wirbel übertragen, bis sie das Gebiss erreicht.
- Die anatomisch richtige Rückenbewegung erfordert eine Dehnung der Oberlinienmuskulatur, die nur entstehen kann, wenn die Hinterbeine untertreten und das Pferd durchs Genick geht.
Die meisten Beschreibungen zu irgendeinem beliebigen Thema in der Dressur sind recht oberflächig. Wichtige Informationen werden oft ausgelassen und nur oberflächliche Details erwähnt, die eher unbedeutend sind. Oder sie verwechseln Form und Funktion oder Ursache und Wirkung.
Die richtige Rückenbewegung wird von den Hinterbeinen erzeugt, die nicht nur unter den Körper treten, sondern sich auch in ihren oberen Gelenken beugen, sodass das Becken abkippt. Dies führt zu einer Aufrichtung der Lendenwirbelsäule und des Widerrists zusammen mit dem Halsansatz (was die sogenannte relative Aufrichtung hervorruft) und es erlaubt das Fallenlassen des Genicks.
Dazu ist zusätzlich zu den untertretenden und gebeugten Hinterbeinen eine gute Anspannung der Rumpfmuskel erforderlich. So lange die Rumpfmuskulatur nicht angespannt ist und so lange die Hinterbeine sich nicht unter der Last beugen, wird der Pferderücken durchfallen und die Oberlinienmuskeln werden sich zusammen ziehen. Ein solches Pferd bezeichnet man als Schenkelgänger.
Die richtige Rückenbewegung resultiert aus dem Energiekreislauf, der mit den Bewegungsimpulsen der Hinterhand beginnt. Sie setzen sich entlang der Wirbelsäule fort bis zum Gebiss und kehren durch den Reitersitz zu den Hinterbeinen zurück. Dieser Energiekreislauf erfordert eine gewisse Anlehnung. Ohne Anlehnung wird es sehr schwer sein, das Pferd zum Anspannen seiner Rumpfmuskulatur und zum Beugen der Hinterhand zu bewegen. Auch das Gewicht von Pferdekopf und -hals lässt sich ohne Anlehnung nicht einsetzen, um die Hinterbeine zu beugen.
Wenn der Rücken “da” ist, sitzt man auf einem sogenannten Rückengänger:
- Der Rücken ist angehoben und füllt den Sitz. Der Brustkorb dehnt sich aus und füllt die Beine.
- Das Pferd öffnet seinen Rücken, schafft damit einen bequemen Platz für den Sitz und nimmt die Reiterin mit in die Bewegung hinein.
- Der Hals dehnt sich in die Hand.
- Die Anlehnung fühlt sich “lebendig” an. Man kann den Energiefluß zwischen den Hinterbeinen und dem Gebiß spüren.
- Die Gänge sind weich und rund. Sie sind angenehm zu sitzen, auch wenn sie groß sind.
- Der Rücken fühlt sich wie eine große Welle an, die die Reiterin ohne Stöße oder “Schlaglöcher” mitnimmt.
- Es fühlt sich an, als ob man direkt auf den Hinterbeinen säße und das gesamte Pferd vor sich hätte.
- Der Widerrist ist angehoben und der Halsansatz vor dem Widerrist sieht aus wie aufgeblasen. Er ist der breiteste Teil des Halses.
- Die Hilfen gehen durch den ganzen Körper hindurch und alle Körperteile sind durch die Reiterhilfen erreichbar.
- Alle Körperteile des Pferdes sind sowohl untereinander verbunden als auch mit den Reiterhilfen.
- Das Pferd ist durch alle 4 Beine mit dem Boden und dem Gewicht verbunden.
- Nach dem Ritt erscheinen die Rücken- und Kruppenmuskeln aufgrund der stärkeren Durchblutung etwas größer.
WIE SIEHT ES AUS, WENN DAS PFERD “ÜBER DEN RÜCKEN” GEHT?
- Harmonisch, rund weich
- Das Pferd scheint über den Boden zu gleiten.
- Die Reiterin sitzt ruhig im Pferd, anstatt auf dem Pferd herumgestoßen zu werden.
- Die Beine scheinen sich wie die Speichen eines Rades zu bewegen, anstatt in den Boden zu stechen.
- Die Gänge sind lautlos.
- Alle Körperteile scheinen mit einander verbunden zu sein und miteinander zu kommunizieren.
- Der Widerrist ist angehoben und die Oberlinie dehnt sich.
- Die Kruppe erscheint rund und alle Gelenke der Hinterhand öffnen und schließen sich, nicht nur die unteren Gelenk.
WIE KOMMEN SIE MIT IHREM PFERD DORTHIN?
Die Beschreibungen in Büchern und Artikeln über das Dressurreiten zeichnen gerne ein hübsches Bild, in dem alles perfekt ist. Aber die Realität ist gewöhnlich nicht perfekt. Viele Pferde reagieren nicht so, wie die Bücher es beschreiben. Sie dehnen sich nicht, wenn man mit der Hand nachgibt. Sie gehen nicht vorwärts, wenn man treibt. Sie biegen sich nicht um den inneren Schenkel. Sie dehnen sich nicht in den äußeren Zügel. Und sie heben den Rücken nicht an, weil sie nicht wissen, dass sie diese Dinge tun sollen, oder wie sie tun sollen, da es ihnen nie erklärt wurde oder auch weil ihr Gebäude es ihnen schwer macht, oder weil ihnen das nötige Körpergefühl fehlt …
Daher sind auch so viele Standardanweisungen völlig nutzlos. Die meisten Reiter sind sich nur allzu bewusst, wenn ihre Pferde nicht durchs Genick gehen, wenn sie sich nicht dehnen oder wenn sie ihren Rücken nicht richtig gebrauchen. Es hilft also nicht, wenn man ihnen diese Dinge unter die Nase hält. Womit die Reiter Hilfe brauchen, ist zu verstehen, WARUM die Pferde sich so verhalten, WAS sie daran hindert, sich richtig zu bewegen und WIE man dorthin gelangt.
Wenn Sie die Checklisten oben durchgehen und feststellen, dass Ihr Pferd seinen Rücken nicht richtig gebraucht, fragen Sie sich, warum das so ist.
SIE KÖNNEN DIE LÖSUNG EINGRENZEN, INDEM SIE DIE FOLGENDEN FRAGEN UNTERSUCHEN:
- Bewegen sich die Pferdebeine auf den richtigen Linien oder weicht ein Bein seitlich aus?
- Treten die Hinterbeine weit genug unter den Körper?
- Beugen sich die Hinterbeine in den oberen Gelenken?
- Können Sie das Gewicht von einer Körperseite zur anderen verlagern?
- Gibt es Körperteile, die sich steif, hart oder unbeweglich anfühlen?
- Können Sie die Hinterbeine in Ihren Händen fühlen?
- Können Sie die Zügel in Ihren Rumpfmuskeln spüren?
Sie werden höchstwahrscheinlich Gebiete entdecken, die noch verbessert werden können, insbesondere wenn Ihr Pferd nicht über den Rücken geht. Einer oder mehrere dieser Faktoren hindern Ihr Pferd daran, seinen Rücken richtig zu gebrauchen. Sobald Sie die betreffenden Faktoren identifiziert haben, ist im Grunde auch die Lösung schon gefunden.
Die alten Meister sagten, dass Gleichgewicht und Geschmeidigkeit die Eckpfeiler der Dressur sind. Sie bilden auch die Basis für die richtige Rückenbewegung. Das Gleichgewicht ergibt sich aus dem Reiten präziser Bahnfiguren in einem regelmäßigen Tempo, das weder zu schnell noch zu langsam ist. Dies ist unser Ausgangspunkt.
Im nächsten Schritt können wir den Pferdekörper auf Steifheiten untersuchen, indem wir Übungen reiten, die die Schultern, die Hüften, die Wirbelsäule und den Brustkorb ansprechen. Finden wir einen Mangel an Geschmeidigkeit in irgendeiner dieser Muskelgruppen, mobilisieren wir sie durch Übungen, welche die Problemzone gezielt behandeln.
Die Schultern werden durch Volten, Achten, Schlangenlinien, Ecken, Hinterhandwendungen, Passaden und Pirouetten geschmeidig gemacht.
Die Hüften werden durch Vorhandwendungen in der Bewegung und Seitengänge mobilisiert.
Die Wirbelsäule wird durch Biegungswechsel und Handwechsel geschmeidiger gemacht.
Der Brustkorb wird durch Kombinationen von Wendungen, Seitengängen, Biegungswechsel und Handwechsel gelöst.
In den meisten Fällen werden wir die Hinterbein mehr unter den Körper bringen und mit Hilfe der Körpermasse beugen müssen. Der effektivste Weg ist in der Regel:
durch eine schulterhereinartige oder konterschulterhereinartige Bewegung ein Hinterbein mehr unter den Körper zu bringen und
es mit Hilfe der Körpermasse zu beugen durch eine Ecke, eine Hinterhandwendung, Anhalten in dieses Hinterbein, Rückwärtsrichten oder eine Kombination von zwei oder mehreren dieser Lektionen.
Wie Sie sehen können, gibt es nicht immer einen einfachen, geraden Weg zum gewünschten Ergebnis. Oft reicht es nicht, einfach mit den Händen nachzugeben oder den Pferdekopf zu senken, damit das Pferd über den Rücken geht. Das Pferd geht nicht automatisch über den Rücken, nur weil der Kopf unten und der Hals rund ist. Der Hals wird jedoch rund und das Genick wird fallen gelassen, wenn der Rücken sich richtig bewegt. Und der Rücken bewegt sich seinerseits richtig, wenn die Hinterbeine sich unter der Körpermasse beugen und die Rumpfmuskulatur des Pferdes engagiert ist. Manchmal muss man das Pferd erst ausbalancieren, geraderichten und geschmeidig machen, bevor es überhaupt eine Veranlassung sieht, sein Genick loszulassen und seinen Rücken anzuheben, insbesondere wenn sein Gebäude gegen es arbeitet, oder wenn es jahrelang die falschen Haltungsgewohnheiten aufgebaut hat. In diesen Fällen wird es auch nicht gelingen, die Haltung in fünf Minuten oder in fünf Tagen grundlegend zu ändern, sondern man muss geduldig sein und beim Pferd allmählich ein besseres Körpergefühl, eine bessere Balance und eine bessere Haltung zu entwickeln.
Allerdings fragen fast alle Pferde an, ob sie sich einmal dehnen und den Rücken anheben dürfen, wenn sie sich mit ihren Hinterbeinen tragen, weil ihnen dies bequemer erscheint.
Die Reiterin muss dann ihrerseits diesen Augenblick erfassen und dem Pferd einen etwas leichteren Sitz und einen etwas längeren Zügel anbieten, um das Aufwölben des Rückens und die Dehnung der Oberlinie zu erlauben.
Vorwärts-Abwärts bzw. Reiten in Dehnungshaltung ist eine der schwierigsten Lektionen überhaupt, solange man Sie korrekt ausführen will.